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Wenn es um die Wahrheit geht, erwartet man sicher einen hochtheoretischen, in philosophischen Höhen schwebenden Exkurs. Gut, aber dies ist ja ein persönlicher Block, deshalb nehme ich mir die Freiheit, mit meinem ganz privaten Verhältnis zur Wahrheit zu beginnen.
Die Wahrheit und ich
Wie wohl die Mehrzahl aller Kinder bin auch ich mit Märchen aufgewachsen. Ich hörte sie gern, wenn ein Erwachsener sie mir erzählte, sah Märchenfilme im Fernseher und im Kino, las Märchenbücher. Das gefiel mir durchaus.
Diese heile, glückliche Welt geriet aber ins Wanken, als ich durch Zufall auf die Sagen der altgriechischen Mythologie stieß. Irgendwie gefielen sie mir besser als Märchen. Und irgendwann begriff ich, woran das lag.
Die Märchen gaukelten mir eine Welt vor, wie es sie nicht gab. Es gab Gute und Böse. Und am Ende siegte trotz aller Widrigkeiten immer das Gute und das Böse wurde bestraft. Eine schöne Welt, aber keine wahre Welt!
In den Sagen war es ganz anders. Hier gab es niemanden, der nur gut oder nur böse war, das waren Menschen, wie sie mir tagtäglich begegneten, mit guten und eben auch bösen Eigenschaften. Und das Gute siegte auch nur manchmal, manchmal eben auch das Böse. Und selbst der größte Held der Griechen, Herakles, musste einen jämmerlichen Tod sterben (übriges infolge der Dummheit seiner Frau).
Sagen kamen dem realen Leben, das ich tagtäglich beobachtete, näher als Märchen, waren wahrer.
Ich wollte nicht mehr auf "Märchen" hereinfallen!
Und so begann ich die Aussagen der Autoritäten, mit denen ich zu tun hatte, kritisch zu hinterfragen, die Erwachsenen aus meinem Umfeld, Lehrer, öffentliche Personen.
In der Schule etwa gab es Schüler, die nicht verstanden oder verstehen wollten, was die Lehrer da erzählten, dann gab es da Schüler, die durchaus begriffen, was von ihnen verlangt wurde, fleißig lernten und gute Noten erhielten - und mich, der sich ständig fragte: "Stimmt denn das, was der Typ da vorne mir weismachen will?"
Dummerweise gelang es mir nicht immer, mich zu beherrschen, meine Gedanken für mich zu behalten, vor allem, wenn ein Thema mich interessierte und ich mich mit alternativen Standpunkten auseinandergesetzt hatte.
Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Manie mir das Leben nicht grade leicht gemacht hat. Je hierarchischer eine gesellschaftliche Struktur war (alle gesellschaftlichen Strukturen sind mehr oder weniger hierarchisch!), in der ich mich bewegte, desto ausgeschlossener war Erfolg oder Karriere für mich. Als Unterstellter nervte ich meine Vorgesetzten ungemein, weil ich ihre Entscheidungen manchmal für dumm hielt, als Vorgesetzter nervte ich mich selbst, weil ich auch meine Entscheidungen für dumm hielt.
Schwamm drüber!
Jedenfalls kam ich über dir Frage nach konkreten Wahrheiten bezüglich eines bestimmten Sachverhalts irgendwann auf die Frage, was denn eigentlich die Wahrheit an sich ist, losgelöst von irgendwelchen beliebigen Sachverhalten, woran man erkennt, was wahr ist und was falsch.
Und da war ich in der Philosophie gelandet, denn nur sie stellt sich so merkwürdige theoretische Fragen.
Und siehe an, da gab es ja von sehr klugen Menschen entworfene
Wahrheitstheorien
Eine kurze Übersicht dazu:
Wahrheitstheorie  | Vertreter z.B. | Wahrheit ist … | Probleme |
Korrespondenz-theorie  | Thomas von Aquin  | Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit  | siehe unten |
Redundanztheorie  | Frege | ein überflüssiger Begriff  | führt zu Wahrheits-relativismus |
Pragmatische Wahrheitstheorie | William James  | was erfolgreich ist | auch eine Lüge kann erfolgreich sein |
Konsensustheorie  | Habermas  | diskursiver Konsens  | setzt unrealistisch hohe Anforderungen an den Diskurs voraus  |
Kohärenztheorie  | Neurath  | Widerspruchs-freiheit innerhalb eines Systems | nur ideale Eigenschaft eines Gesamtsystems  |
Werfen wir nur einen Blick auf die wohl weitverbreitetste, dem Common Sense am nächsten kommende Theorie, die Korrespondenztheorie der Wahrheit.
Zu ihren wichtigsten Vertretern zählt man oft Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant, Russell, Wittgenstein, Tarski, bedeutende Philosophen also.
Zurück zum gesunden Menschenverstand.
Wann glauben wir Menschen eigentlich, dass das, was wir denken, die Wahrheit ist?
Wir sehen z.B. eine Stuhl. Wir denken: das ist ein Stuhl. Wir sind überzeugt, das ist auch in Wirklichkeit ein Stuhl, keine Einbildung. Daher gehen wir davon aus, dass das, was wir denken die Wahrheit ist.
So weit, so gut. Wenn es nicht so laufen würde, wären wir als Spezies auch nicht überlebensfähig.
Doch man kann ja tiefer fragen.
Ich übersetze die dahinterstehenden philosophischen Gedankengänge hierzu in eine Sicht auf das Alltagsdenken.
Die Wahrheit soll also in der Korrespondenz, also der Übereinstimmung meines Denkens mit der Realität bestehen.
Doch wie kann ich eigentlich die Übereinstimmung zwischen zwei so unterschiedlichen Dingen wie einem Gedanken und einem realen Gegenstand feststellen?
Das eine ist in meinem Kopf, das andere da draußen.
Das eine ist etwas Mentales, das andere etwas Materielles.
Meine Gedanken kann ich anhand bestimmter Kriterien miteinander vergleichen, z.B. ob sie logisch korrekt oder logisch inkorrekt sind.
Dinge der Welt kann ich anhand ihrer Erscheinungen für mich, also gefiltert durch meine Sinnesorgane und strukturiert durch meinen Verstand vergleichen, aber nicht die „Dinge an sich“ (nach Kant).
"Um aber beide Elemente der Wahrheitsrelation vergleichen zu können, müssten wir einen Standpunkt außerhalb der Welt einnehmen und einen unmittelbaren Zugang zu den Tatsachen haben. Da wir aber die Welt nicht mit den Augen Gottes von einem objektiven Standpunkt aus betrachten können, sondern in ihr leben, können wir immer nur eine interne Perspektive einnehmen und Aussagen und Theorien miteinander vergleichen." (Zoglauer in "Einführung in die formale Logik für Philosophen")
Also selbst in der Philosophie finden wir keine Antwort auf unsere Frage, was eigentlich die Wahrheit ist. Warum das so ist, kann ich in diesem kurzen Format nicht erläutern.
Nur eine letzte Bemerkung zu den Wahrheitstheorien:
Wahrheitstheorien haben schon ein logisches Problem.
Wenn ich eine Wahrheitstheorie aufstelle, gehe ich ja automatisch davon aus, dass meine Theorie wahr ist - sonst würde ich es ja nicht tun.
Ich gehe als von (wie ich voraussetze) der Wahrheit aus, um die Wahrheit zu erklären.
Das führt zu kuriosen Folgen.
Auf die Frage, was die Wahrheit ist, müsste ich jetzt konsequenterweise antworten: Das, was meine Theorie über die Wahrheit aussagt.
Mit anderen Worten: Die Wahrheit ist das, was ich für die Wahrheit halte.
Damit ist der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet - und ein bisschen auch dem Größenwahn!
Und was nun?
Ist das alles ein Grund in Verzweiflung zu verfallen, den kollektiven Selbstmord der Menschheit in Erwägung zu ziehen?
Sicher nicht, wir Menschen sind außerordentlich zäh, selbst wenn wir keine Ahnung haben, suchen wir nach einer pragmatischen Lösung, die zwar nicht optimal ist, aber immer noch besser als reines Herumraten oder gar Passivität.
Im Recht z.B. gibt es:
§ 57 StPO – Belehrung des Zeugen
„Vor der Vernehmung ist der Zeuge über seine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage und über das Recht, die Aussage zu verweigern, zu belehren.“
oder
§ 395 ZPO – Wahrheitspflicht
„Der Zeuge hat die Pflicht, die Wahrheit anzugeben.“
Mit anderen Worten: Das deutsche Recht verlangt von einem Zeugen (siehe das Zitat von Zoglauer) göttliche Allwissenheit!
Gemeint ist natürlich etwas anderes: Der Zeuge soll und darf nicht bewusst lügen. Aber nicht lügen und die Wahrheit sagen sind zwei verschiedene Dinge, die nur bedingt übereinstimmen.
Vielleicht gibt es einfach psychologische Gründe dafür eine so seltsame Formulierung zu wählen wie Wahrheitspflicht.
Wahrheit hört sich ganz einfach besser an als Nichtlügen, klingt doch irgendwie sehr edel und nicht so profan. Und erzielt deshalb hoffentlich eher die gewünschte Wirkung bei Zeugen.
In den Natur- und Sozialwissenschaften geht man sehr pragmatisch mit der Wahrheit um. In den verschiedenen Disziplinen hat sich historisch ein recht reglementiertes Anspruchsniveau für seriöses wissenschaftliches Arbeiten herausgebildet. Der Wissenschaft geht es also primär nicht um die Wahrheit, sondern um die Einhaltung von Normen, die eine möglichst adäquate Annäherung an die Wirklichkeit garantieren sollen.
Zu den bekannten Methoden gehören z.B.
Beobachtung und Experiment.
Hier wird eine Aussage durch wiederholte Beobachtungen oder Experimente bestätigt oder widerlegt.
Oder
Induktion,
also die Verallgemeinerung vieler einzelner Beobachtungen.
Viele kluge Wissenschaftlicher sind sich durchaus bewusst, dass es angebracht ist, sich in Bescheidenheit zu üben - alle leider nicht.
Das Ergebnis eines Experiments ist nichts anderes als das Ergebnis eines Experiments, vielleicht ein Fakt, vielleicht eine Tatsache - niemals aber die Wahrheit.
Darüber hinaus gibt es auch noch weitere "Wahrheiten", etwa ästhetische oder normative/ethische, auf die hier aber nicht weiter eingegangen werden soll.
Dann gibt es noch das logisch/mathematische Denken, das ich bevorzuge. Der Weisheit letzter Schluss zur Erklärung der Wahrheit ist auch das nicht. Aber immerhin liefert es Ergebnisse die a priori (unabhängig von Erfahrung) wahr oder falsch sind. Und: Ich weiß es nicht besser!


